Der Philosoph Slavoj Žižek analysiert in seinem Buch “Auf verlorenem Posten” den Umgang mit der Krise der Märkte. Führende in Politik und Wirtschaft folgen der Religion des Marktes noch radikaler. Statt einer Besinnung zur gesellschaftlichen Solidarität wird die Krise zur Vertiefung des Marktradikalismus und zum weiteren Abbau des Sozialstaats genutzt.
Slavoj Žižek: Die Krise als Schocktherapie (YouTube)
“Die Schockstrategie”
Slavoj Žižek über die Macht der Ideologie in der Krise
Der Kapitalismus fordert Entschiedenheit. Der Preis, den wir dafür zahlen, ist hoch. Für den slowenischen Philosophen und Psychoanalytiker Slavoj Žižek offenbart die derzeitige Krise vor allem eines: eine manipulative Strategie, um kapitalistische Spielregeln noch radikaler zu etablieren. Sein neues Buch heißt “Auf verlorenem Posten”.
Schon immer hat der wilde Denker Slavoj Žižek unsere scheinbaren Gewissheiten radikal zerstört. Auch mit “Auf verlorenem Posten” hebt sich der slowenische Philosophie-Star aus Ljubljana ab von den meisten Zeitdiagnosen. Die Krise, sagt Žižek, bietet keine Katharsis. Im Gegenteil: Sie schnürt unsere Fesseln noch enger.
Krise als Katastrophenszenario
“Ich denke”, so Žižek, “dass das Schockmoment der Krise als manipulative Strategie des globalen Kapitalismus genutzt wird, um kapitalistische Spielregeln noch radikaler zu etablieren und den Sozialstaat auszuhöhlen.” Die Krise als Katastrophenszenario, das uns die Prioritäten der globalen Welt klar macht. Milliarden werden in das Bankenloch gestopft. Klimawandel, HIV oder Hungersnöte – all das kann warten – wie immer. Politiker folgen der Religion des Marktes. Wir sind die “Crash Test Dummies” für den Frontalkurs.
“Gerade in Krisenzeiten ermöglicht uns die Ideologie, dass wir einfach weiterträumen”, so Žižek. “Anstatt kritische Fragen zu stellen, sollen wir uns einfach entspannen. Für mich ist das pervers: Ständig wird uns gesagt, dass die Finanzkrise nur ein Weg des Kapitalismus ist, sich selbst zu regulieren, und wir sicher sein können, dass diese Krise auf lange Sicht etwas ganz normales im Wirtschaftszyklus ist.” Der Kapitalismus – “the only game in town” – längst haben wir diese Wahrheit verinnerlicht. Auch in der Krise glauben wir noch immer den Interpretationen der ökonomischen Eliten: Nicht das System ist schuld, sondern die Gier Einzelner. Je einfacher die Schuldigen zu identifizieren sind, desto besser.
“Das hatte schon fast antisemitische Ausmaße”, erklärt der Philosoph. “Schauen wir uns Bernard Madoff an. Es ist erstaunlich, wie die Leute sich auf ihn stürzten und ihn als psychisch gestörten und verkommenen Freak hinstellten. Nach dem Motto: Schaut her, dieser korrupte Jude, der unser Geld verzockt hat. Fakt ist: Madoff hat nur die Logik des Systems bis zum Äußersten getrieben. Wir sollten daher eher fragen: Welche sozialen und ökonomischen Bedingungen haben Madoff dazu gebracht, so zu handeln?”
Marionetten eines Systems
Die Dynamik der kapitalistischen Welt treibt uns an. Wir sollen Spaß haben und unser Potential ausschöpfen, neben der festgefahrenen Vergnügungsspur: das Nichts. Das ist die perfide Wahrheit, die der Kapitalismusgegner Žižek offenlegen will. Wir sind Marionetten eines Systems, gehalten an den unsichtbaren Fäden kapitalistischer Propaganda. “Genau das braucht das System, um zu überleben”, sagt er. “Es kann sich nur reproduzieren, indem es uns durch Vergnügen versklavt. So interpretiere ich im Film ‘Matrix’ die berühmte Szene, in der die Menschen auf einmal erkennen, in welcher Situation sie stecken, und wie das System ihre Energie aussaugt, ohne dass sie sich dessen bewusst sind.”
Gefangen in einer Scheinwelt, hinter der sich der Horror des Realen verbirgt. Für seine sprunghaften Assoziationen nutzt der Philosophie-Entertainer jede Gelegenheit. “Das hier ist fast so wie in der ‘Truman-Show’. Alles ist durchorganisiert. Wahrscheinlich ist auch dieser Mann hierher bestellt worden, um uns zu stören”, so Žižek. Unbewusst folgen wir einer Fiktion. Dem System ist jedes Mittel recht, um unsere Träume in die richtigen Bahnen zu lenken. Auch in Hollywood zeigt sich für Žižek, den Psychoanalytiker, mit welchen Mitteln sich der Kapitalismus durchsetzt.
Woher wissen wir, was wir ersehnen?
“Hollywood-Filme”, sagt er, “interessieren mich, da sie spiegeln, wo wir heute ideologisch stehen. Und sie sind mehr als das: Hollywood produziert Ideologie, indem es uns Modelle präsentiert, wie wir uns verhalten sollen.” Und er ergänzt: “Unser Problem besteht nicht darin, dass unsere Sehnsüchte befriedigt werden. Unser Problem ist: Woher wissen wir, was wir ersehnen? Menschliche Sehnsucht ist nichts Spontanes. Unsere Sehnsüchte sind künstlich. Man muss uns überhaupt erst beibringen, wie wir begehren sollen. Das Kino ist die ultimativ perverse Kunstform. Es gibt uns nicht, was wir begehren. Es lehrt uns erst, wie wir überhaupt begehren sollen.”
Erst, wer sich von der Ideologie befreit, die uns die kapitalistische Welt aufzwingt, kann wirklich frei sein. Žižek entlarvt in der Krise unseren Mangel an utopischer Vorstellungskraft. Aber wenn wir uns einfach dem Lauf der Geschichte fügen, macht uns Žižek keine Hoffnung mehr. “Wir dürfen nicht einfach im dem Zug der Geschichte mitfahren. Wir müssen die Notbremse ziehen, bevor wir an die Wand fahren. Das müssen wir uns bewusst machen: Es hängt alles von uns ab. Wenn wir die historische Entwicklung einfach so weiter laufen lassen, dann wird es in einer noch nie dagewesenen sozialen und ökologischen Katastrophe enden. Wir müssen endlich handeln, ohne darauf zu hoffen, dass ein ‘großer Anderer’ oder die Geschichte auf unserer Seite ist. Niemand ist auf unserer Seite.”